Walt Disney produzierte zu seinen Lebzeiten zahlreiche Kurzfilme, von Cartoons über Realkurzfilme bis hin zu Kurzdokumentationen. Wir haben erneut fünf Kurzfilme ausgesucht, mit deren Kenntnis ihr den Filmschaffenden besser versteht.
Das Jahr 2023 steht für den Disney-Konzern unter dem Banner „Disney100“: Mit tourenden Ausstellungen, Sonderveranstaltungen und vielen weiteren Aktionen wird das 100-jährige Bestehen der von Walt Disney gegründeten Firma zelebriert. Anlass genug, gleichzeitig auf den Mann zu blicken, auf den dieses Unterhaltungsimperium zurückzuführen ist, sowie auf das Fundament, auf dem dieser Konzern ruht:
Bevor die Walt Disney Company mit Themenparks, abendfüllenden Trickfilmen und Big-Budget-Realfilmspektakeln die Popkultur prägte, waren Kurzfilme das A und O. Nachdem ich euch vor zwei Jahren bereits fünf Kurzfilme und ihre Verbindung zu Walt Disney vorgestellt habe, ist es nun an der Zeit, fünf weitere nachzureichen! Dieses Mal liegt der Fokus auf Kurzfilmen, die in der Disney-Firmengeschichte kleine und große Wendepunkte markieren:
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„Autumn“ / „Herbst“ (1930)
Die vier Jahreszeiten: Sie sind seit eh und je Inspirationsquelle für Kunstschaffende. Antonio Vivaldi widmete ihnen im 18. Jahrhundert Violinkonzerte, die bis heute genossen werden. Éric Rohmer ließ sich zu einem Zyklus an smart-herzlichen, dialoglastigen Dramödien hinreißen, die zwischen 1989 und 1998 erschienen sind. Und die Walt Disney Studios gingen ihnen in einer „Silly Symphony“- Tetralogie nach.
Den vorletzten Part dieses Filmquartetts stellt der Herbst-Kurzfilm von 1930 dar, in dem Bären, Biber, Eichhörnchen und weitere Tiere emsig ihre Vorräte verstauen, bevor der Winter einbricht. Inszeniert von Micky-Maus-Mitschöpfer und Schnellzeichner Ub Iwerks, versammelte der Kurzfilm Disney-Filmlegenden wie Les Clark, Wilfred Jackson sowie Hamilton Luske und das Disney-Comicgenie Floyd Gottfredson an den Zeichentischen. Zudem markiere „Autumn“ eine Zäsur in der frühen Disney-Geschichte:
Dies ist der letzte Kurzfilm, bei dem Iwerks Regie führte und die spätere „Looney Tunes“-Musikgröße Carl Stalling als Komponist agierte, bevor beide ihren Weggang von Disney in die Wege leiteten. Denn Iwerks wurde von Disney-Konkurrent Pat Powers abgeworben, obwohl Walt Disneys für Finanzfragen zuständiger Bruder Roy bereit war, tief in die Taschen zu greifen, um dies zu verhindern: Er bot ihm neben einer saftigen Gagenerhöhung 20 Prozent der Firmenanteile an.
Stalling folgte Iwerks, allzu lang hielt die Zusammenarbeit aber nicht: Stalling ging letztlich zu Warner, Iwerks zog es nach der Schließung seines mit Powers’ Unterstützung gegründeten Studios zurück zu Disney, wo er aber ins Fach der Effektarbeit wechselte. Somit blieb „Autumn“ Iwerks’ letzte alleinig verantwortete Kurzfilm-Regiearbeit innerhalb des Disney-Kanons.
Obwohl „Autumn“ aufgrund Iwerks’ und Stallings recht abrupten Abschied in Produktionsschwierigkeiten geriet und gen Ende des Animationsprozesses sämtliche Arbeitsschritte beschleunigt wurden, ist dem Film anzumerken, wie sehr Iwerks seit seinen Anfängen dazugelernt hatte: Mit einer Vielzahl an fallenden Blättern, detaillierten Wasserreflexionen und einzelnen Passagen mit atmosphärischem Schattenwurf gibt es allerhand Elemente, die primär der Vermittlung einer Atmosphäre dienen. Es gibt sogar ungelenke, aber ambitionierte Versuche von Kamerafahrten, bei denen sich der Vorder- und Hintergrund des Bilds in unterschiedlichen Maßstäben bewegen – mehrere Jahre vor Erfindung der Multiplane-Kamera.
Noch im selben Jahr wurde der Jahreszeitenzyklus innerhalb der „Silly Symphony“-Reihe mit „Winter“ abgeschlossen, allerdings mit deutlich zurückgeschraubter filmtechnischer Ambition – was der zeitgenössischen Fachpresse auffiel.
„Merbabies“ / „Meer-Babys“ (1938)
Walt Disney hatte eine komplizierte Beziehung zur Hollywood-Konkurrenz: Einerseits pflegte er Freundschaften innerhalb der Filmindustrie, etwa zu Charlie Chaplin oder später zu Alfred Hitchcock. Außerdem spornte er seine Belegschaft an, sich stets weiterzubilden – etwa mittels Kunstkursen an der Abendschule. Und selbstredend sah man sich bei Disney die Arbeit der Mitbewerber-Studios an, um sich inspirieren zu lassen und die Entwicklung des Mediums im Blick zu halten.
Außerdem war Disney gelegentlich offen für die Idee, mit anderen Studios zu kooperieren – so wurde Micky Maus 1934 für das MGM-Musical „Hollywood Party“ sozusagen ausgeliehen. Und innerhalb der Disney-Studios werkelte Ub Iwerks fast drei Jahrzehnte später an mehreren Effektszenen für Hitchcocks „Die Vögel“. Gleichwohl wurde Walt Disney, insbesondere während der ersten eineinhalb Jahrzehnte der Firmengeschichte, nie müde, zu betonen, dass sein Studio eine Familie sei. Und nachdem Walt Disney seinen ersten großen Cartoon-Star Oswald an die Konkurrenz verlor und ihm später Ub Iwerks, einer seiner besten Männer, abgeworben wurde, konnte der „Familienpatriarch“ argwöhnisch werden, wenn sich seine Arbeitsfamilie zu weit von ihm entfernte.
So wurden die Forderungen seiner Zeichner, sich der 1938 gegründeten Screen Cartoonist’s Guild anzuschließen, abgeschmettert. Das Thema „Walt Disney und Gewerkschaften“ ist dornig und kompliziert – aber ein Aspekt, der gelegentlich in Vergessenheit gerät: Als Gegenentwurf wurde zunächst eine studiointerne Zeichner-Gewerkschaft vorgeschlagen. Sicherlich, um gewerkschaftliche Forderungen leichter abschmettern zu können. Womöglich aber ebenfalls, weil Walt Disney die Vorstellung missfiel, dass sich „seine“ Leute regelmäßig mit der sie potentiell zu sich lockenden Konkurrenz treffen.
Bekanntlich verhinderte Walt Disneys radikale Position gegenüber einer studioübergreifenden Zeichner-Gewerkschaft letztlich nicht, dass Leute das Studio verlassen. Trotzdem ist vor diesem Hintergrund der „Silly Symphony“-Cartoon „Merbabies“ von 1938 eine mittelgroße Disney-Sensation. Denn er entstand mittels eines Prozesses, den man heutzutage „Outsourcing“ nennen würde!
Im Jahr 1937 gerieten die Disney-Studios enorm unter Druck: Sie mussten den Langfilm „Schneewittchen und die sieben Zwege“ allmählich vollenden, weil ihnen die Banken, die Disney für das Projekt Geld geborgt haben, ungeduldig auf’s Dach gestiegen sind. Also wurden intern mehr und mehr Ressourcen in den Film gesteckt – womit man allerdings bei der Produktion von Kurzfilmen ins Hintertreffen geriet. Das wiederum bedeutete potentiellen Ärger mit dem erst kürzlich an Land gezogenen Vertriebspartner RKO Radio Pictures, dem man Material zu liefern hatte.
Parallel dazu gerieten zwei frühe Wegbegleiter Walt Disneys in Schwierigkeiten: Hugh Harman und Rudolf Ising, die mit Disney während der frühen 1920er-Jahre im Laugh-o-Gram Studio werkelten, wurden aus ihrem lukrativen MGM-Vertrag gekickt. Der Grund dafür dürfte bei Walt Disney Mitgefühl geweckt haben: Aus einem Perfektionsdrang heraus überzogen sie mit ihren Cartoons zuletzt das Budget. Um Harman und Ising auszuhelfen und gleichzeitig die eigene Haut zu retten, schlug Walt Disney einen Deal vor:
Harman-Ising Productions lieh Disney Arbeitskräfte aus seiner eigenen Ink-and-Paint-Abteilung aus, damit sie bei „Schneewittchen und die sieben Zwerge“ aushelfen. Zum Ausgleich gab Disney die Produktion dreier Kurzfilme in Auftrag, die Disney finanzieren sollte und unter seinem Banner in die Kinos bringen wollte. So sollten seine alten Weggefährten wieder an Arbeit und Geld gelangen – und Disney dem drohenden Ärger mit RKO entgehen.
„Merbabies“ sollte der erste von diesen drei Filmen werden. Als Regisseure wurden Ising und der Disney-Künstler Vernon Stallings installiert, die Animation übernahm die Harman-Ising-Crew. Die bestand teilweise aus Ex-Disney-Leuten wie Oswald-Veteran Rollin Hamilton sowie späteren Disney-Gesichtern, wie etwa Mel Shaw, der während der Produktion von „Bambi“ von Walt Disney persönlich angeheuert wurde.
Beim Kurzfilm „Merbabies“ bemühte man sich sehr, den Disney-Stil zu imitieren, und schaute sich dramaturgisch allerlei beim ähnlich gearteten „Water Babies“ von 1935 ab. Der Cartoon, in dem sich sprühende Gischt zu Baby-Meerjungfrauen formt, die am Meeresboden mit zahlreichen Tieren herumtollen, kam am 9. Dezember 1938 in die Kinos – und sollte das verfrühte Ende der Harman-Ising-Trilogie innerhalb der „Silly Symphony“-Reihe markieren. Denn während RKO bei diesem Film noch ein Auge zugedrückt hat, wurde Disney ermahnt: Man habe die Disney-Trickstudios unter Vertrag genommen und will deren Werke veröffentlichen – keine fremden Filme mit drauf gepapptem Disney-Label!
Daher wurden „Pipe Dreams“ und „The Little Bantamweight“, die zwei weiteren Cartoons, die Harman und Ising für Disney entwickelten, letztlich weiterverkauft – ironischerweise an MGM, die diese Kurzfilme noch vor „Merbabies“ herausgebracht haben. Für Harman und Ising ging dieses Chaos gut aus: MGM heuerte sie kurz darauf wieder an.
„South of the Border with Disney“ / „Im Süden von Amerika!“ (1942)
Zwar produzierte Walt Disney vor seinem großen Durchbruch ein paar Realkurzfilme, doch nach der Erfindung von Micky Maus widmete er sich zunächst exklusiv dem Animationsmedium. Erst in den 1940er-Jahren kehrte er zum Realfilm zurück. Seine ersten Gehversuche im Rahmen dieser Rückkehr kam in Form einer oft vergessenen Ergänzung zu „Saludos Amigos“ und „Drei Caballeros“. Denn unter der Regie von Norm Ferguson und Einfluss des von Präsident Franklin D. Roosevelt ermächtigten Office of the Coordinator of Inter-American Affairs produzierte Walt mit „South of the Border with Disney“ eine Kurzdokumentation über seine „Good Will Tour“.
Die wiederum wurde getätigt, weil Disney vom besagten Büro den Auftrag erhielt, die Beziehungen zwischen den USA und Lateinamerika zu pflegen, weil man befürchtete, dass Mexiko und die Länder Südamerikas ohne ausreichende Nachbarschaftspflege nach rechts rücken könnten. Für Walt Disney selbst hatte die „Good Will Tour“ darüber hinaus den willkommenen Bonus, dass er sich mit 18 von ihm geschätzten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern auf Reise begeben konnte, während im heimatlichen Studio die Stimmung überkochte. Grund dafür waren Walt Disneys knallharte Anti-Gewerkschafts-Position und der darauf antwortende Streik.
Aufgrund dieser Hintergrundgeschichte ist „South of the Border with Disney“ zweifelsohne ein interessantes Kuriosum in der Disney-Filmografie: Diese 32-minütige Dokumentation gestattet einen beiläufigen Einblick in die kulturelle Stimmung zum Produktionszeitraum, sowie zusätzliche Eindrücke der lateinamerikanischen Kultur aus jener Zeit, die „Saludos Amigos“ deutlich ergänzen. Darüber hinaus ist die Kurzdoku die andere Medaille des besagten, ungewöhnlichen Meisterwerks: Während „Saludos Amigos“ die „Good Will Tour“ mit einem stärker unterstrichenen Unterhaltungsfaktor zusammenfasst, ist „South of the Border with Disney“ etwas stringenter und faktischer.
Und zu guter Letzt fungiert er als disneyscher Making-of-Film, einige Zeit, bevor Disney die hinter die Kulissen blickende Selbstpromo perfektionierte und vereinheitlichte. Auf der deutschen „Saludos Amigos“-DVD ist „South of the Border with Disney“ übrigens als Extra mit dabei.
„The Winged Scourge“ (1943)
Die Disney-Studios, die im Zweiten Weltkrieg händeringend nach Einnahmequellen suchten, betrieben ihre „Nachbarschaftspolitik“ zwischen den USA, Mexiko und Südamerika nicht nur durch diplomatische Brücken schlagendes Entertainment. Da Walt Disney die Dienste seines Studios der Politik öffnete, wurde es auch mit der Herstellung reiner Informationsfilmchen beauftragt. Neben Schulungsmaterial für’s Militär und Propaganda-Kurzfilmen für die US-Öffentlichkeit, die beispielsweise eine Durchhaltementalität erzeugen sollten, wurden auch Kurzfilme produziert, die über gesundheitliche Fragen aufklären.
Der erste dieser Kurzfilme ist „The Winged Scourge“, der unter dem Arbeitstitel „The Mosquito and Malaria“ im Auftrag des Office of the Coordinator of Inter-American Affairs entstand. Ziel war, einen Aufklärungsfilm über die Entstehung, Verbreitung und Bekämpfung von Malaria zu produzieren, der vornehmlich in Lateinamerika gezeigt werden sollte.
Der Kurzfilm sollte somit in seinen Einsatzgebieten Leben retten, wovon sich die USA wiederum versprachen, die lokale Bevölkerung für ihre Politik zu begeistern und so den Einfluss der dort zirkulierenden Propaganda der Achsenmächte zu übertönen. Die Regie bei „The Winged Scourge“ führte Bill Roberts, der auf Anregung Walt Disneys ihr Gesundheitsaufklärungsfilmdebüt in zwei Sinnhälften teilte:
Zunächst wird sachlich erläutert, wie Stechmücken zur Verbreitung von Malaria beitragen und welche Folgen diese Krankheit für den Menschen hat. Die entsprechenden Informationen holte sich die hinter dem Film stehende Crew aus zeitgenössischer Fachliteratur und vom Public Health Service and the Pan American Sanitary Bureau, außerdem mussten die Storyboards von Fachleuten in Washington D.C. abgesegnet werden, bevor der Animationsprozess beginnen durfte.
(Kleine Anmerkung: Seit der Entstehung von „The Winged Scourge“ sind zwei der im Kurzfilm empfohlene Methoden zur Mückenbekämpfung in Ungnade gefallen, da bei ihnen Giftstoffe freigesetzt werden, die Menschen schaden. Ergo: Nur weil Disney einen Kurzfilm über etwas gemacht hat, heißt es nicht, dass die Wissenschaft auf diesem Wissensstand stehen bleibt!)
Vergleicht man „The Winged Scourge“ mit späteren Informations-Kurzfilmen, die während des Zweiten Weltkriegs für das Office of the Coordinator of Inter-American Affairs entstanden, werden große Unterschiede offensichtlich: Bei diesem ersten Auftrag nahmen sich die Disney-Künstler noch viel Zeit, um visuelle Qualität zu liefern. Zwar besteht der informative Part des Cartoons aus weitestgehend stillstehenden Malereien, diese sind allerdings sehr detailliert und ästhetisch gehalten, während spätere Kurzfilme zu ähnlichen Themen schlichter gehalten und allein auf den informativen Aspekt hingebogen wurden, um Kosten zu senken und zudem den Produktionszeitraum zu stutzen.
Und noch etwas hebt „The Winged Scourge“ von anderen Info-Werken für das Office of the Coordinator of Inter-American Affairs ab: Nach der Vermittlung der dringendsten Informationen folgt ein metafiktionaler Twist! Der Kurzfilm wird als Film-im-Film enthüllt, den sich die sieben Zwerge anschauen, woraufhin sie feststellen, dass sich in ihrer Hütte eine Stechmücke befindet. Der Cartoon endet mit der Slapstickhatz auf das krankheitsübertragende Insekt.
Diese Sequenzen wurden von keinen Geringeren als Milt Kahl und Frank Thomas animiert, die mit derselben Liebe zum Detail und derselben Passion für Charakter vorgingen wie in „Schneewittchen und die sieben Zwerge“. Da der Auftraggeber die Kosten für solche Charakteranimation in klassischer Disney-Qualität als zu hoch ansah, wurden die weiteren Informationskurzfilme für das Office of the Coordinator of Inter-American Affairs hingegen ohne solche Gastauftritte produziert.
„The Winged Scourge“ wurde der Einfachheit halber in englischer Sprache produziert und anschließend in Spanisch und Portugiesisch synchronisiert, die für Tontechnik zuständige Firma RCA zahlte die dafür notwendigen Kosten aus eigener Tasche. Der Cartoon erwies sich in den Zielmärkten als großer Erfolg, weshalb er letztlich auch dem US-Militär vorgeführt sowie in Australien und Indien gezeigt wurde. Laut Cartoon Research wurde er zudem für den indischen Markt in Hindi, Tamil, Telugu und Bengalisch synchronisiert – lange, bevor es üblich wurde, US-Filme in diesen Sprachen neu einzusprechen.
Nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs zog sich Disney nicht aus dem Geschäft mit Informations- und Ausbildungsfilmen zurück, sondern nahm in gedrosselter Menge weiter Aufträge von Ministerien sowie von privaten Firmen an. Mit der Disney Educational Media Company, später Disney Educational Productions, wurde Ende der 1960er sogar eine spezielle Konzernspalte für diese Arbeiten installiert.
„Seal Island“ / „Die Robbeninsel“ (1948)
Obwohl Ausbildungs- und Informationsfilme im Auftrag der Regierung den Disney Studios ein Auffangnetz in Kriegszeiten boten, hatte Walt Disney eine distanzierte Beziehung zu ihnen: Als nach Kriegsende im Studio die Idee diskutiert wurde, in ungebrochener Quantität auf solche Aufträge zu setzen, sprach er sich dagegen aus. Walt wollte so schnell wie möglich zurück zu Unterhaltungsfilmen für das breite Publikum kehren.
Doch um diesen Plan in die Tat umzusetzen, mussten die Disney-Studios enorme Hürden nehmen: Auch wenn sie die Schließung der Disney-Studios verhinderten, waren die Propaganda- und Ausbildungs-Auftragsarbeiten nicht sonderlich profitabel, die regulären Kinofilme Disneys waren zu Kriegszeiten ebenfalls keine allzu großen Gewinnbringer. Noch dazu wurden die Einnahmen aus vielen ausländischen Märkten, in denen Disney während des Zweiten Weltkriegs weiterhin aktiv war, dort „eingefroren“, so etwa im Vereinigten Königreich.
Wie also wieder Filme mit einer das Publikum mitreißenden Qualität auf die Beine stellen, ohne sich ein Schuldengrab zu graben? Eines war Walt und Roy Disney sofort klar: Sie müssen das Studio diversifizieren, um es krisensicher zu machen – der alleinige Fokus auf zeit- und kostenintensive Animation erwies sich schließlich als zu riskant. Somit wurden nach dem Zweiten Weltkrieg die Fühler in Richtung Realfilm ausgestreckt.
Ein weiterer Plan Disneys war es, nach dem Zweiten Weltkrieg ein großes Filmprojekt über den amerikanischen Pioniergeist auf die Beine zu stellen. Man erhoffte sich davon, den Zeitgeist zu treffen und somit das Publikum zu begeistern. In Diskussionen über den möglichen Schwerpunkt des Films kristallisierte sich zügig Alaska heraus: Alaska galt damals beim Bürgertum als „Amerikas letzte noch zu erkundende Grenze“. Zudem beschlossen viele in die Heimat zurückgekehrte Kriegsveteranen, sich in der unberührten Abgeschiedenheit Alaskas niederzulassen.
Wie der legendäre und viel zu früh verstorbene Disney-Historiker Jim Korkis festhielt, sah Produzent Ben Sharpsteen darin enormes Storypotential und versuchte, Walt Disney auf dieses Thema zu lenken. Der fühlte sich allerdings stärker zur Landschaft Alaskas hingezogen – eine Begeisterung, die sich im August 1947 intensivierte: Sein Polo-Partner Russell Havenstrite hatte einen Geschäftstermin in Alaska und lud Walt ein, ihn dabei zu begleiten. Walt sagte begeistert zu und nahm auch seine Tochter Sharon mit, die diesen Trip später als eine ihrer liebsten Vater-Tochter-Erinnerungen bezeichnete.
Von der Natur Alaskas verzaubert, stand es für Walt Disney außer Frage, dass er einen Film über den nördlichsten US-Staat machen muss. Also kontaktierte er den Chefredakteur eines Natur-Fachmagazins, mit der Bitte, ihm sehenswerte Arbeiten über diese Gegend vorzuschlagen. Er empfahl Aufnahmen des Ehepaars Elma und Alfred Milotte und landete damit einen Volltreffer:
Walt liebte, was das Paar gemacht hat, und genoss vor allem seinen Blick für humorige Augenblicke in freier Wildbahn. Also beauftragte er die Eheleute damit, massig Filmmaterial über die Flora und Fauna in Alaska zu drehen. Die Milottes betrieben zu dieser Zeit einen Laden für Kamerabedarf und mauserten sich in den vergangenen Jahren von Hobby-Fotograf:innen zu in Fachkreisen angesehenen Naturfilmer:innen. Schon Anfang der 1940er-Jahre suchten sie den Kontakt mit Walt Disney, um eine Zusammenarbeit zu pitchen, stießen damals aber noch auf taube Ohren – nun aber hatte ihre Stunde geschlagen!
Sie bannten alle möglichen Aspekte Alaskas auf Tausenden Meter Film – von den Eingeborenen und ihrer Kultur, über Landschaft und Wetterbedingungen bis hin zur Tierwelt. In Walt-Disney-Biografien herrscht Uneinigkeit darüber, ob Walt Disney ursprünglich beabsichtigte, diese Aufnahmen als Recherchematerial für einen ambitionierten Animationsfilm zu verwenden, oder ob er von Anfang an wusste, dass daraus ein Dokumentarfilm entstehen soll. Aber in einem Aspekt herrscht Einigkeit:
Als Walt Disney während der Sichtung des Materials Aufnahmen zu Gesicht bekam, wie sich ein Haufen Robben auf einer Insel tummelt, war er gebannt und hatte plötzlich ein klares Ziel vor Augen: Daraus muss ein Film werden! Also sendete er den Milottes die kurze, klare Anweisung „Mehr Robben!“, während er Regisseur James Algar und Produzent Ben Sharpsteen zusammentrommelte. Sie sollten sich das bereits vorhandene Robben-Material anschauen und davon inspiriert ein Skript entwickeln, an das man schon entstandene sowie noch folgende Aufnahmen anpassen könnte.
So schufen Sharpsteen, Algar und Disney, von den Aufnahmen der Milottes ausgehend, die bis heute gebräuchliche Blaupause für sich an ein Publikum jeglichen Alters richtende Naturdokumentationen: Von realen Beobachtungen in der Natur inspiriert, werden Tonnen an Material so zurechtgeschnitten, dass eine (die Tiere etwas vermenschlichende) Handlung entsteht. So berichteten die Milottes, dass es regelmäßig vorkommt, dass Robbenbabys verloren gehen und ältere Tiere sie daraufhin suchen. Algar und Sharpsteen arrangierten daher die Aufnahmen verschiedener Robben so, dass es im fertigen Film wirkt, als hätten sich die Milottes ein paar Robben gezielt rausgesucht, um ihre Geschichte lückenlos zu dokumentieren.
Im Zusammenspiel mit einem prächtigen, orchestralen Score, der aus einem märchenhaften Abenteuerfilm stammen könnte, und einer im Original von Winston Hibler eingesprochenen, kumpelhaften Erzählung wurde aus der Naturbeobachtung nun informative, zugleich disneyfiziert-kurzweilige Unterhaltung. Walt Disney war begeistert und sah „Seal Island“ als Startschuss für eine neue Filmreihe namens True-Life Adventures, sein Bruder Roy hingegen war panisch: Die Kosten für die Fertigstellung des Films bezifferten sich auf 86.000 bis 100.000 Dollar (die Filmgeschichtsschreibung streitet um die exakte Summe). Das war eine Summe, die Roy in diesen finanziell diffizilen Zeiten lieber in Projekte geleitet hätte, die er als sichere Nummer erachtete.
Roys Zweifel verärgerten Walt, so dass ihre Beziehung zueinander zwischenzeitlich angespannt war – doch als noch problematischer erwiesen sich die Reaktionen seitens RKO: Der Vertrieb bezweifelte, dass es ein Publikum für das damals kommerziell unerprobte Genre der Naturdoku gibt. Daher weigerte er sich, den Film ins Kino zu bringen. Also schloss sich Walt Disney mit einem befreundeten Kinobetreiber in Pasadena zusammen, der sich bereiterklärte, „Seal Island“ eine Woche lang als Vorfilm zu zeigen – nach damaligen Academy-Regeln genügte dies für eine Oscar-Qualifikation. Es war ein kluger Schachzug: Nicht nur, dass das Publikum in Pasadena „Seal Island“ feierte – der Film wurde für einen Oscar nominiert und setzte sich letztlich erfolgreich in der Kategorie „Best Short Subject (Two-Reel)“ durch.
Der Legende zufolge taute nach der Oscar-Verleihung die Beziehung zwischen den Disney-Brüdern wieder auf – durch einen frechen, das Eis brechenden Spruch Walts: Er gab seinem Bruder den Oscar in die Hand – begleitet vom augenzwinkernden Befehl, Roy solle nun zu RKO gehen und den Leuten dort den Oscar über den Schädel ziehen. Doch auch ohne Ausübung dieser nicht ernst gemeinten Aufforderung genügte der Oscar, um den Verleih zu überzeugen, „Seal Island“ doch noch einen breiten Kinostart zu geben und zähneknirschend weitere True-Life Adventures ins Kino zu bringen. „Seal Island“ nahm schätzungsweise 434.000 Dollar ein – ein beeindruckender Erfolg, der RKO dennoch nicht ausreichte:
Als Walt Disney mit „Die Wüste lebt“ die erste abendfüllende True-Life-Adventures-Ausgabe plante, stellte sich der Verleih erneut quer, weshalb Disney die Reißleine zog und mit Buena Vista seinen eigenen Vertrieb gründete. Der Erfolg von „Seal Island“ inspirierte aber nicht nur weitere True-Life Adventures und somit Disneys Emanzipation von RKO, sondern auch eine zweite Filmserie. Aus bereits gedrehtem Material der Milottes, das während der obig beschriebenen Ideensuche entstand, ließ Walt Disney einen weiteren Kurzfilm schneiden: Den rückblickend unglücklich betitelten „The Alaskan Eskimo“.
Mit dieser Kurzdoku startete 1953 die mehrfach mit dem Oscar ausgezeichnete Reihe „Peoples & Places“, die dem bürgerlichen US-Publikum fremde Kulturen näher bringen sollte – und 1956 einmalig für einen ausführlichen Disneyland-Werbespot genutzt wurde. Geschichtenerzähler und Träumer Walt Disney war halt auch pfiffiger Geschäftsmann.
Das waren fünf weitere (von vielen) Kurzfilmen, mit denen ihr euch die Person Walt Disney und den Wandel des Disney-Konzerns besser erschließen könnt. Kennt ihr die hier genannten Kurzfilme, oder habe ich euch hiermit erstmals auf den Geschmack gebracht, sie euch anzuschauen? Lasst es mich wissen – und besucht bitte Cartoon Research und Mouseplanet, zwei hervorragende Wissensquellen, ohne die Artikel wie dieser unmöglich wären.
Auch Bob Thomas’ Walt-Disney-Biografie, Reinhold Reitbergers bei Rowohlt erschienene Biografie über den Maushaus-Gründer sowie Andreas Platthaus’ Walt-Biografie waren hilfreiche Leitplanken für diesen Beitrag. Und sind für Disney-Fans sowieso überaus lesenswert!
DisneyCentral.de LIVE:
Calling all Dreamers!
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Eine Übersicht aller Walt Disney Kurzfilme findet ihr auf unserer praktischen Übersichtsseite.
Sidney ist seit er denken kann fasziniert von der Themenwelt Disney. Schon in der Grundschule las er eine Walt-Disney-Biografie, er ist davon überzeugt, dass Donald Duck die großartigste Schöpfung in der Geschichte der Fiktion ist, und jetzt tippselt der Freelancer-Filmkritiker auch noch hier herum. Aw, Phooey!